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Trilobitenauge
aus Katalog:
Sehen und Sein, '94
  Ausstellung
SEHEN UND SEIN
Experimente in eigener Sache

Prof.Dr. Wolfgang Tunner
9.Oktober 1994 - 13.November 1994
Schloß Wolkersdorf Vortragssaal - 1. Stock, Schloßplatz 2, A - 2120 Wolkersdorf

Am Tag der Eröffnung fanden Vorträge und Gespräche zum gleichen Thema statt.

Ausstellung und Gespräche
Mit der Ausstellung "SEHEN UND SEIN", die als Grundsatzüberlegung und Thema auch fotografische Praxis und Theorie betrifft, findet die von der Nö. Fotoinitiative FLUSS veranstaltete Reihe "lese" ihre Fortsetzung.

Unter dem Titel "SEHEN UND SEIN" zeigte Prof. Tunner eine Ausstellung mit Ergebnissen seiner Experimente zur Psychologie der Wahrnehmung. Diese wissenschaftlichen Arbeiten wurden in einen bildhaften Erfahrungszusammenhang mit alltäglichen Lebensweisen, philosophischen Erkenntnissen und ästhetischen Einstellungen gebracht. Außerdem zeigten Heinz Cibulka und Hermann Nitsch künstlerische Arbeiten, die in einem direkten Bezug zur Person von Tunner entstanden sind.

Vortragende und Gesprächteilnehmer:
Univ. Prof.Dr. Herbert Bauer, Wien, Neuropsychologie
Univ.Prof.Dr. Hans Belting, Karlsruhe, Kunstwissenschaft
Univ.Doz.Dr.med.phil. Lydia Hartl, München, Medizin und Psychologie
Rudolf Leitner-Gründberg, Bubendorf, Malerei
Prof. Hermann Nitsch, Frankfurt/ Main und Prinzendorf, Aktionismus und Malerei
Univ.Prof.DR. Lutz von Rosenstiel, München, Wirtschaftspsychologie
Fritz Scheuer, München, Malerei
Univ.Prof.Dr. Wolgang Tunner, Krahof/NÖ und München, Klinische Psychologie
Univ.Prof.Dr. Peter Vitouch, Wien, Medienpsychologie

SEHEN UND SEIN
Konzept der Ausstellung
Wolfgang Tunner

Die Ausstellung kam durch Initiative von Heinz Cibulka zustande. Er machte mir den Vorschlag, Bilder und Texte zu Wissenschaft, Kunst und dem alltäglichen Leben zu zeigen, die mir für mein eigenes Verständnis der Dinge wichtig sind. Wie in den Aufsätzen, die ich zur Psychologie und Kunst veröffentlichte, sollte es durch Bild und Sprache zu einer Huldigung der Sinneswelt kommen. Der Zusammenhang von Bild, Idee und Begriff sollte die Einsicht bekräftigen, wie sehr Sprache die konkrete Erfahrung benötigt, um Ausdruck zu gewinnen. Denn Begriffe sind schwach, die nicht im Sinnlichen gründen. Soll diese Erkenntnis in einer Ausstellung mitgeteilt werden, besteht die Gefahr, sich in der Absicht zu widersprechen: Im Vergleich zur tatsächlichen Erfahrung sind Bild und Wort an der Wand abstrakt. Von den wirklichen Beweggründen der Sprache sind sie zu weit entfernt, um der Idee der Ausstellung zu entsprechen. Bilder sind mehr anschauliche Analogie von Begriffen als eine ihrer bildenden Wurzeln. Zwar geben bekanntlich Bilder für die Phantasie vielfältige Anreize, aber sie wirken nicht so sehr auf die Sprache wie auf die Entstehung weiterer Bilder. Das gilt nicht nur für die Kunst, sondern auch für die Wissenschaft, wo Bilder den Gang der Spekulation nicht unbedingt fördern. Außerdem sind die Inhalte wissenschaftlicher Bilder mit bloßem Auge normalerweise nicht sichtbar. Sie sind Bilder des Unsichtbaren. Niemand kann Zellverbände, Moleküle, Elementarteilchen oder Feuersbrünste der Gestirne mit freiem Blick sehen. Erst das apparativ gerüstete Auge macht sie wahrnehmbar und läßt sie als Bilder erscheinen. Es besteht daher die Frage, ob das technisch bewaffnete Sehorgan das Leben in der Welt unmittelbarer Erscheinungen nicht viel eher stört, als seine Intensität zu steigern. Was bringt es, angesichts einer Körperbewegung Bilder der Nervenzellen vor Augen zu habe, die bei dieser Bewegung in Erregung geraten. Es kann sein, daß alle diese indirekt wahrnehmbaren Bilder vom Leben - so wie es mit dem freien Auge erscheint - ablenken.
Vor dem Hintergrund der technisch manipulierten und zu künstlichen Szenarien zusammengestellten Scheinwelten unseres modernen Alltags wirken solche Bedenken allerdings zeitwidrig. Aber trotzdem oder gerade deshalb sind sie von Aktualität.
Denn je mehr Einblick in die Manipulierbarkeit der Wahrnehmung besteht und je größer die Kenntnisse über die Ordnung und das Durcheinander in den Feinstrukturen unseres Gehirns sind, um so stärker wird das Bedürfnis, in einen ganz gewöhnlichen und von der Sonne gereiften Apfel zu beißen. Die bildende und stets zeitgemäße Kraft solcher Bedürfnisse sollte man nicht unterschätzen. - Aber wie dem auch sei, auf was es mir dabei hier ankommt, ist die Mannigfaltigkeit der visuellen Erscheinungen. Auf sie möchte ich hinweisen und sie als solche begreifen. Nicht auf Erklärungen bin ich aus, sondern auf die Gegenwart der Erscheinungen selbst. Es kommt mir dabei - trotz vieler Bedenken - auch nicht darauf an, ob sie mit freiem Auge oder mit technischen oder künstlerischen Methoden sichtbar werden. Einzig die Antwort auf die Frage entscheidet, ob wir einen Weg finden, auf dem die Vielfalt der sichtbaren Welt als ein Ganzes begriffen werden kann. Ein solcher Weg hätte zweifellos große Wirkung auf Leben und Sprache.
Zur Gliederung der Ausstellung habe ich die Bilder und Gegenstände auf Vorgänge bezogen, die man als Experimente bezeichnen kann und die unter ästhetischen Gesichtspunkten geordnet, Einstellungen philosophischer Art erkennen lassen. In diesem Sinne ist die Ausstellung eine Gelegenheit, auf gemeinsame Bereiche von Wissenschaft, Kunst und Philosophie hinzuweisen.

Zur Ausstellung erschien ein 70-seitiger bebilderter Katalog mit Texten folgender Autoren:
Wolfgang Tunner: Konzept der Ausstellung "Sehen und Sein"
Heinz Cibulka: Wolfgang Tunner
Lydia Andrea Hartl: Von der Einheit in der Vielfalt
Hermann Nitsch: Aktion für Wolfgang Tunner
Hans Belting: Das natürliche Wunder
Lutz von Rosenstiel: Wolfgang in der grauen Wüste
Niels Birbaumer: Neurophysiologie von Lernvorgängen
Florian Sundheimer: Wie die Tannennadeln zum Ameisenhaufen kommen



Katalog: lese '94: Wolfgang Tunner "SEHEN UND SEIN"

     
 
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